Schlott, Michael, Jörg Schönert, Wilhelm Schernus, Thorsten Ries, Lutz Danneberg and Friedrich Vollhardt (Eds.): Wege der Aufklärung in Deutschland: die Forschungsgeschichte von Empfindsamkeit und Jakobinismus zwischen 1965 und 1990 in Experteninterviews. Leipzig: Sächsische Akademie der Wissenschaften 2012 (= Abhandlung der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse 83), 842 pp [Link].

abstract

Der Band „Wege der Aufklärung“ präsentiert 21 Interviews mit Literaturwissenschaftlern und Historikern, die – als Experten – aufgrund ihrer langjährigen Kenntnis des Wissenschaftsbetriebs über fundierte Urteile und weitreichende Hintergrundinformationen zur Forschungsgeschichte verfügten und sich in den Forschungsbereichen ‚Jakobinismus‘ und ‚Empfindsamkeit‘ mit wegweisenden Beiträgen ausgewiesen hatten. Durch die explorative Interview-Technik und die kommentierenden Erläuterungen wird wissenschaftsgeschichtliches Wissen für eine in sich abgeschlossene Periode der Wissenschaftsgeschichte in bereits strukturierter Weise gesichert, wie es durch die üblichen Auswertungen von Fachliteratur, Briefzeugnissen und autobiographischen Texten vermutlich gar nicht erst sichtbar werden würde. Es ist auf diese Weise ein exemplarisches Kapitel der Wissenschaftsgeschichte entstanden, das Fachinteressen, interdisziplinäre Konstellationen sowie Fachentwicklungen in Ost- und Westdeutschland nicht zuletzt im Bezugspunkt aufschlussreicher politischer und ideologischer Perspektiven verfolgt.

Die literaturwissenschaftlichen Forschungsgegenstände ,Empfindsamkeit‘ und ,Jakobinismus‘ sind für die jüngere Wissenschaftshistoriographie in (mindestens) zweierlei Hinsicht bedeutsam. Beide Literaturströmungen gelten in der Forschungsgeschichte als besonders signifikante ,Phasen‘ bzw. Konstellationen der deutschen Aufklärung. Gemeint ist damit zum einen die – in sich widersprüchlich erscheinende – Konstitution einer bürgerlich-aufklärerischen Bewegung in der Mitte des 18. Jahrhunderts, zum anderen der Höhepunkt ihrer emanzipatorischen Bestrebungen und politischen Impulse am Ende des Jahrhunderts. Bei der Festlegung und Beschreibung dieser epochenspezifischen Zuschreibungen erwiesen sich die von anderen Disziplinen ausgegangenen Impulse zu einer umfassenden kultur- und sozialgeschichtlichen Fragestellung als forschungsbestimmend, weil diese Fragestellung ausdrücklich Hypothesen zur Formation, Entwicklung, Wandlung und – im Zuge einer zunehmenden Politisierung der germanistischen Literaturwissenschaft in den 1970er Jahren – zu den Bedingungen einer Umwandlung der bürgerlichen Gesellschaft einschloss. Der Forschungsverlauf zwischen 1965 und 1990 weist in beiden Gegenstandsbereichen analoge Merkmale auf: Verschiebungen in den methodischen Konzeptionen werden nur fallweise, nicht aber generell in einem ,zeitlichen Wechsel‘ mitvollzogen. Die Anerkennung neuer Konzeptionen hängt nicht unmittelbar mit der Konsistenz, der Leistungsfähigkeit oder dem intensiveren Gegenstandsbezug einer wissenschaftlichen Theorie zusammen: Ihre mögliche Durchsetzung wird nicht allein durch kognitive Faktoren (Wahrheitskriterien) gesteuert. Differenzierungen in der Theoriebildung bewirken nicht in jedem Fall eine Beschleunigung der Prozesse zur Problemlösung oder der Verarbeitung neuester Ergebnisse. Die breite und im Einzelfall rasche Übernahme innovativer Theoriemodelle kann zu einer Hemmung des wissenschaftlichen Fortschritts (gemessen an der innerdisziplinären Informationsvergabe) führen. Speziell das (politisch inspirierte) Konzept „Literarischer Jakobinismus“ erwies sich als brüchig und anfällig, was zunächst mit den korrespondierenden Irritationen seiner historiographischen Rückversicherung in der Geschichtswissenschaft zusammenhängt: Der sogenannte deutsche Jakobinismus war trotz umfassender Quellenforschungen in seinen Protagonisten und agitatorischen Schriften nur punktuell dem programmatischen Jakobinismus in Frankreich kommensurabel. Folgerichtig ist in der literaturwissenschaftlichen Perspektive das Grundproblem einer differenzierenden Merkmalszuweisung zur Unterscheidung zwischen oppositionell- reformistisch orientiertem Liberalismus und revolutionärem Demokratismus (als Jakobinismus) ungelöst geblieben.